Vom Bogen der Erinnerung
Es war einmal ein Junge. Er spielte leidenschaftlich gern in dem kleinen Waldstück, das an den Garten seiner Eltern angrenzte. Hier konnte er so viel entdecken: im Frühjahr das erste Grün, im Sommer die schattenspendenden Dächer unter den Zweigen, im Herbst Pilze und andere Waldfrüchte, im Winter die glitzernden Schneeflocken auf den Ästen. Er liebte das Entdecken und Erkunden: es war eine so große Welt in diesem kleinen Waldstück. Es war seine Welt.
Eines Tages blieb er vor dem Haselnussstrauch am Rande des Waldstückes stehen. Irgendetwas lockte ihn. Neugierig schaute er in das Geäst. Nichts besonderes war zu sehen. Er schaute genauer hin. Da fiel ihm ein schlanker gerader Ast in den Blick. Er griff mit der Hand vorsichtig durch den Strauch, um diesen Ast zu fühlen. Er war stark und geschmeidig, obwohl er frisch gewachsen war in diesem Frühjahr. Ein junger biegsamer Ast, der sich dem Leben entgegenstreckte. Einige Blätter waren an ihm, nicht viele, da er ja im Innern des Strauches wuchs. Am Ende des Astes war das Grün, das sich dem Licht entgegenreckte. Dem Jungen kam eine Idee – und er war sich sicher, dass der Ast sich deswegen in seinen Blick gedrängt hatte. „Großartig wäre es, aus diesem Ast einen Bogen zu bauen! Er lässt sich biegen ohne zu brechen. Ich kann eine Schnur an die Enden binden und diese spannen – und schon kommt ein Bogen dabei raus! Dann kann ich Pfeile schießen. Das macht bestimmt großen Spaß!“ Schnell verabschiedete sich der Junge von dem Ast und dem Haselnussstrauch – und lief eilig nach Hause, um den Eltern von seiner Entdeckung und seinen Plänen zu berichten.
„Mama! Ich habe am Waldrand einen tollen Ast entdeckt! Ich will mir einen Bogen daraus bauen!“
„Wasch dir erst einmal die Hände, wir essen gleich. Und ein Bogen? Das ist mir viel zu gefährlich. Weißt du, was damit alles passieren kann? Komm, wasch dir die Hände.“ Der Junge wusch sich die Hände und setzte sich an den Tisch.
„Papa,“ erzählte er beim Essen, „ich habe am Waldrand einen tollen Ast entdeckt. Ich möchte mir einen Bogen daraus bauen!“
„Junge, dafür bist du noch zu klein. Ein Bogen ist kompliziert zu bauen. Da muss man einiges bedenken. Die Länge und die Spannkraft des Astes, das Holz. Warte bis ich etwas Zeit habe. Vielleicht gehen wir dann gemeinsam zu dem Strauch und ich schaue mir den Ast an.“ Aber diese Zeit kam nicht. Sein Vater hatte viel anderes zu tun.
Einmal erzählte der Junge seinem Großvater von dem Ast. Aber sein Großvater war schon alt und oft vergesslich. Er sprach nicht mehr viel.
„Opa, ich habe am Waldrand einen tollen Ast entdeckt. Ich würde mir so gerne einen Bogen daraus bauen!“
Die Augen des Opas glänzten, als er das hörte. „Ein Bogen…“ sagte er leise vor sich hin. Es war dem Jungen, als wäre Opa gerade in eine andere Welt eingetaucht. Die alten Hände hoben sich aus dem Schoß unter der Decke hervor und machten langsam weite kreisende Bewegungen. Immer und immer wieder hoben sich die Arme. Bis sie wieder erschöpft auf den Beinen ruhten. Opa sah den Jungen an, seine Augen glänzten. „Ein Bogen, - das ist ein Speicher. In diesem Speicher ruhen die Kraft und die Erinnerung.“ Der Junge verstand seinen Opa nicht. Er streichelte ihm über die alten Hände und legte die Decke vorsichtig wieder darüber. Opa sollte nicht frieren.
Es vergingen Jahre. Opa war längst gestorben. Der Vater des Jungen hatte nun Zeit, da er nicht mehr so viel zu tun hatte. Er arbeitete ja nicht mehr, da er alt geworden war. Mutter sorgte immer noch für den Vater. Mit gewaschenen Händen saßen sie jeden Mittag zu zweit am Tisch und aßen ihr Essen.
Der Junge lebte nicht mehr bei seinen Eltern. Er war erwachsen und nun selber ein junger Mann. Er hatte sein eigenes Leben am anderen Ende der Stadt. Dort wohnte er mit seiner Frau und seinen Kindern. Regelmäßig besuchte er seine Eltern. Dann spielten die Kinder im Garten – und manchmal wagten sie sich auch hinein in das kleine Waldstück, das sie mit Freude erkundeten.
„Junge, “, sagte der Vater eines Tages, „es wäre mir eine große Hilfe, wenn du mit mir oben im Haus aufräumen könntest. Ich möchte das Haus in Ordnung bringen. Wer weiß, wie lange Mutter und ich das noch können.“ Mutter und Vater schauten sich eine Weile liebevoll an. In ihrem Blick lag das Alter - und das Wissen darum.
„Gerne helfe ich dir. Gleich gehe ich die Treppen hinauf und schaue, was zu tun ist.“
„Gut.“ sagte der Vater.
So ging der junge Mann die Treppen hinauf. Als Kind war er sie oft rauf und runter gesprungen. Er ging ganz hinauf. Zuerst wollte er sich ein Bild von dem Speicher machen, wusste er doch, dass dort viel abgelegt war, was aber ewig nicht Beachtung gefunden hatte. So öffnete er die Klappe in der Decke und stieg vorsichtig die schmalen Treppen ganz hinauf. Das schwache Licht fiel auf die vielen Spinnweben, die zwischen alten Schränken und Regalen entstanden waren. Mit seinen Bewegungen hier oben schien der Staub der Jahrzehnte ein wenig aufzuwirbeln und tauchte das wenige Licht in einen geheimnisvollen Schleier.
Langsam gewöhnten sich die Augen des jungen Mannes an die Atmosphäre des Speichers. Er schaute sich um. Manches erinnerte ihn an seine Kindheit: eine alte Kommode, in der er in der untersten Schublade seine kleinen Kostbarkeiten aus dem Waldstück versteckt hatte. Blätter, Bucheckern, Eicheln, manchmal einen toten Käfer oder einen besonderen Stein. Mutter hatte das nie so gern gesehen, aber sie ließ alles stets darin. Der junge Mann entdeckte einen Stapel eingestaubter Bücher im Regal. Darin waren die gelesenen Abenteuer seiner Kindheit. Der Anblick zauberte ein Lächeln über sein Gesicht – und sanft strich er mit den Fingern über die Buchrücken. Als Kind hatte er viele Stunden mit ihnen verbracht! In einem alten Schrank, dessen Türen ächzten, als er ihn öffnete, fand er in durchsichtigen Hüllen verborgen die Kleider seiner Mutter. Schöne Kleider, an deren Bewegung der Stoffe er sich gut erinnern konnte. Es waren oft so schwungvolle, warme und duftende Bewegungen gewesen, wie sie nur von einer Mutter sein können. Daneben hing der gute Anzug seines Vaters. Als wenn Vater nur diesen einen Anzug gehabt hätte, dachte der junge Mann.
Er schaute weiter herum – bis sein Blick auf eine große schmale Tasche fiel. Sie war lang und nur eine Hand breit. Sie war aus einem groben Stoff, der an manchen Stellen schon zu zerfallen schien. Die Tasche war ihm völlig unbekannt. Vorsichtig nahm er sie in die Hand. Der Inhalt war am Anfang kaum spürbar, so schlank schien er zu sein. Neugierig öffnete er die Lasche am oberen Ende der Tasche und griff vorsichtig hinein.
„Holz.“ sagte er leise vor sich hin. Er zog daran – und zutage kam ein langer, schlichter Bogen. Ein Bogen, aus einem Stück Holz geschnitzt. Eine alte Sehne lag um ihn gedreht. Beides war lange, lange nicht gebraucht worden.
„Ein Bogen!“ sagte der junge Mann leise vor sich hin. Seine Augen glänzten ohne dass er es merkte. „Ich erinnere mich. Opa sprach von dem Speicher, damals. Von der Kraft und der Erinnerung hier oben. Er muss diesen Bogen im Sinn gehabt haben.“ Betroffen strich er mit seinen Händen über den alten Bogen und gab ihn wieder unter den Stoff der Tasche. Er hatte genug gesehen und ging langsam wieder die Stufen hinab, den Bogen in einer Hand. Er wollte ihn mit hinunter nehmen, ans Tageslicht.
Unten angekommen zeigt er die Tasche seinem Vater.
„Das ist Opas alter Bogen.“ erinnerte er sich. Als ich Kind war, sah ich ihn manches Mal den Bogen spannen. Es war ein großer schöner Bogen. Opa konnte so wunderbar mit ihm schießen. Ich genoss es als Kind, ihm zuzuschauen, wie er mit den Armen ausholte um die Kraft des Bogens aufzunehmen. Es war, als würde sich die Kraft des Bogens auf ihn übertragen. Ich liebte diesen Anblick meines starken Vaters! Wie stolz er wirkte!“ Er holte vorsichtig den Bogen aus der Tasche. Er schaute seinen Sohn an und fragte: „Ob er noch zu nutzen ist?“
„Ich möchte es gerne ausprobieren!“ antwortete der junge Mann.
„Ja, tu das!“
Der junge Mann ging hinaus in den Garten und strich achtsam über den Bogen. Ein Kindheitstraum wurde wach in ihm. Er spürte und ahnte, wie dieses einst gekonnt bearbeitete Stück Holz ein Speicher war, für die Kraft, die nur ein gespannter Bogen bereit zu halten vermag. Vorsichtig entwickelte er die Sehne vom Bogen, legte die eine Öse über das obere Ende und befestigte die andere am unteren Ende des Holzes. Langsam brachte er dann die Spannung auf den alten Bogen. Ob das Holz halten würde? Ob es die Kraft aushalten würde, die nun, nach Jahrzehnten, in ihm wieder wachgerufen wurde? Das Holz hielt. Es bog sich unter der Hand des jungen Mannes, bis dieser die Öse der Sehne nun am oberen Ende des Bogens befestigt hatte. Er war gespannt!
Mit Ehrfurcht hob der junge Mann die Arme. Er legte die Finger an die Sehne und zog leicht an ihr. Der Bogen hielt. Er zog etwas fester, wachsam auf jedes etwaige Reißen des Holzes achtend. Der Bogen hielt. Er zog, bis er vergaß, dass er vorsichtig ziehen musste, denn nun hatte der Kraftspeicher des Bogens ihn ganz eingenommen. Der Bogen hielt. Der junge Mann stand eine Weile aufrecht und still im Bogen, bis er die Sehne wieder entspannte und den Bogen senkte. Beseelt schaute er seinen Vater an, der ebenfalls in den Garten getreten war. Die Blicke trafen einander und kein Wort war nötig.
Mittlerweile waren die Kinder vom Spiel zurückgekehrt. Begeistert sprangen sie um ihren Vater.
„Ein Bogen, ein Bogen!“ schrien sie aufgeregt durcheinander. „Wir wollen auch einmal damit schießen!“ Der junge Mann schaute seine Kinder ernst an.
„Das ist kein Spielzeug! So ein Bogen ist gefährlich..“ sagte er erklärend. Er schaute auf den Bogen – und erinnerte sich an die Worte seiner Mutter und seines Vaters, - damals, als er von seinem eigenen Bogen geträumt hatte.
„So ein Bogen ist kompliziert. Er ist wie ein Kraftspeicher“ begann er seinen Kindern zu erklären, „man muss vorsichtig..“ Dann hielt er inne.
Wortlos reichte er seinem ältesten Kind den Bogen. Das Mädchen nahm ihn ehrfurchtsvoll in seine Hände, stellte sich sicher hin – und zog an der Sehne.
„Ohh, ist der schwer. Da schaffe ich nicht viel. Der Bogen ist für mich zu schwer.“
„Gib mir, gib mir!“ drängelte der jüngere Bruder. Auch er nahm den Bogen in die Hand, stellte sich auf und zog an der Sehne.
„Uhh, ja, das ist ein starker Bogen! Papa, du konntest ihn eben viel weiter spannen! Das wollen wir auch!“
Der junge Mann nahm den alten Bogen von seinem Sohn entgegen.
„Ich habe eine Idee. Kommt mit mir.“ sagte er schmunzelnd zu seinen Kindern. Er durchschritt den Garten seiner Eltern, bis an den Rand des kleinen Waldstücks. Schnell erkannte er den großen, mächtig gewachsenen Haselnussstrauch, der damals in seiner Kindheit noch so viel zierlicher gewesen war. Er schaute in das innere des Strauches, auf der Suche nach jenem Ast, der ihm damals so in den Blick gefallen war. Und wirklich: er entdeckte ihn. Nur war er jetzt, nach der langen Zeit, mächtig und stark geworden. Aus ihm heraus waren viele neue Zweige gewachsen. Er lächelte dem Ast entgegen – und griff beherzt nach zwei schlanken, geraden Ästen, die ihm stark und geschmeidig erschienen. Er brach sie vorsichtig aus der Mitte des Strauches heraus, entfernte die wenigen Blätter an ihnen – und hielt seinen Kindern die beiden Äste entgegen.
„Eure Bögen“ sagte er lächelnd zu seinen Kindern, die staunend die Äste betrachteten. "Wir werden Oma nach Schnur für die Sehnen fragen. Schaut euch um, aus welchen Zweigen ihr Pfeile schnitzen mögt.“ Eifrig suchten die Kinder nach geeigneten Zweigen, brachen sie vorsichtig – und liefen dann eilig zurück in den Garten ihrer Großeltern. Oma suchte und fand eine geeignete Schnur und reichte sie ihrem Sohn.
So saßen sie auf der Terrasse und ließen aus den Ästen zwei junge, kraftvolle Bögen entstehen. Stolz betrachteten die Kinder schließlich die drei Bögen, die nun beisammen lagen. Gleich würden sie mit ihrem Vater die Bögen spannen und erste Pfeile schießen. Die Augen der Kinder glänzten erwartungsvoll.
„Ein Bogen, - das ist ein Speicher. In diesem Speicher ruhen die Kraft und die Erinnerung.“ erzählte der junge Mann lächelnd seinen Kindern. Und er wusste, wovon er sprach.
(Gudrun Schmitz)